Wo stand der erste Atomreaktor der Welt?

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(Text: Jenny Niederstadt)
Es ist 15.25 Uhr, als ein Mitarbeiter den letzten Cadmiumstab entfernt. Dann lauscht das Team gebannt auf das Ticken des Neutronenzählers. Und tatsächlich: Das Gerät fängt an zu pochen, immer schneller, bis sich die Frequenz schließlich zu einem einzigen langen Ton vereint – die Kettenreaktion ist im Gange. Der weltweit erste Atomreaktor liefert Energie. Und das mitten in Chicago, im Keller eines Sportstadions.
Dort, im Herzen der amerikanischen Großstadt, beginnt am 2. Dezember 1942 das Atomzeitalter. Einen »groben Haufen aus schwarzen Ziegeln und Holzbalken« habe er unter dem Stagg Field errichtet, berichtet der Entwickler der Anlage, der italienischstämmige Physiker Enrico Fermi, später. Das Stagg Field gehört der Universität Chicago: Studierende können hier auf Rennbahnen, Baseballfeldern und Tennisplätzen trainieren. Doch tatsächlich wird das Stadion kaum noch genutzt. Und weil Fermi versichert, er habe bei diesem Experiment alles unter Kontrolle, erlaubt ihm die Stadtverwaltung schließlich, seinen Reaktor in einer unterirdischen Squashhalle zu errichten.
Keine Kühlanlage oder Abschirmung gegen radioaktive Strahlen
Innerhalb weniger Wochen baut Fermi mit seinem Team dort den kleinen Meiler aus Uranmetall und Grafit auf: Die »Chicago Pile« getaufte Anlage ist gerade einmal sechs Meter hoch und knapp zwei Meter breit. Und, trotz aller Beteuerungen Fermis: Gut abgesichert ist sein Reaktor aus heutiger Sicht nicht. So fehlt zum Beispiel eine Kühlanlage genauso wie eine Abschirmung gegen radioaktive Strahlen. Für Notfälle stehen während des Versuchs lediglich vier Männer bereit: Einer trägt eine Axt, mit der er ein Seil durchschlagen soll, wenn das Experiment außer Kontrolle geraten sollte. An dem Seil hängt ein großer Cadmiumstab, der sich als Regler zurück in den Reaktor schieben und die Kettenreaktion so unterbrechen würde. Ein dreiköpfiges Team beobachtet den Ablauf außerdem von einem eigens errichteten Podest über dem Reaktor: Die Männer sollen notfalls eine Cadmiumsalzlösung über die Anlage gießen.
Doch Fermis Versuch gelingt ohne Zwischenfälle: Bei seinem ersten Testlauf liefert Chicago Pile ein halbes Watt Leistung – gerade einmal genug, um eine Glühbirne kurz aufglimmen zu lassen. Fermi ist dennoch euphorisiert: Denn nicht der elektrische Strom interessiert ihn. Er will mit seinem Experiment beweisen, dass sich über diesen Weg radioaktives Material für den Bau einer Atombombe gewinnen lässt.
Atombombe: Fermi will den Deutschen zuvorkommen
Wie viele Wissenschaftler seiner Zeit geht Fermi davon aus, dass die Nationalsozialisten kurz davor stehen, ein solches Waffensystem einzusetzen – eine Fehleinschätzung, wie sich später herausstellt. Gemeinsam mit anderen Forscherinnen und Forschern will Fermi den Deutschen im sogenannten Manhattan Project zuvorkommen.
Viele seiner Kollegen sind allerdings deutlich pessimistischer als der Nobelpreisträger. Der Atomphysiker Leó Szilárd etwa, Fermis wichtigster Mitstreiter, schaudert nach dem geglückten Start von Chicago Pile: Dieser 2. Dezember werde als »schwarzer Tag in die Geschichte der Menschheit eingehen«.
Der Artikel ist in P.M. Schneller Schlau erschienen.