»Hallux Valgus«: Warum litten Englands Einwohner an Fußproblemen?

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Foto: © bpk / Victoria and Albert Museum, London
Ein Team der University of Cambridge hat bei der Untersuchung von Toten aus dem Mittelalter häufig verformte Füße festgestellt. Die Archäologin Jenna Dittmar erzählt darüber im Interview

(Text: Angelika Franz)

Wer schön sein will, muss leiden. Diese alte Weisheit hat ein Team von Archäologen um Jenna Dittmar von der University of Cambridge bestätigt. Es hat die mittelalterlichen Toten der Stadt untersucht und dabei festgestellt, dass ungewöhnlich viele von ihnen verformte Füße aufwiesen, die geschmerzt haben müssen. Als Ursache vermuten die Forschenden einen skurrilen Schuhmodetrend in der britischen High Society des 14. Jahrhunderts.

Frau Dittmar, wie sind Sie auf die Idee gekommen, den Toten auf die Füße zu schauen?

Die Studie war Teil eines größeren Projekts namens »Nach der Pest: Gesundheit und Geschichte im mittelalterlichen Cambridge«, das wir mit dem Archäologischen Institut der University of Cambridge durchgeführt haben. Es hat sich mit vielen Aspekten des Lebens im Mittelalter beschäftigt.

Und was haben Sie herausgefunden?

Unsere Forschungen an menschlichen Skeletten aus Cambridge haben gezeigt, dass die Ballenzehe – auch Hallux valgus genannt – ein weit verbreitetes Leiden war, insbesondere unter Individuen mit hohem Sozialstatus, zu denen damals auch die Mitglieder des Klerus gehörten. Mindestens 18 Prozent der 177 untersuchten Individuen litten an dieser Fehlstellung, bei der die große Zehe nach außen abweicht und sich eine schmerzhafte Verdickung an ihrer Basis bildet. Unter den Toten eines Klosterfriedhofs waren es sogar 43 Prozent.

Spitze Schuhe waren im Mittelalter populär

Was verursacht Hallux valgus?

Einer der Hauptfaktoren ist häufig das Tragen enger, schlecht sitzender Schuhe mit einem spitz zulaufenden Zehenraum. Heutzutage wird das Leiden oft mit dem Tragen von Schuhen mit hohen Absätzen in Verbindung gebracht.

Was wissen wir über die Schuhmode im England des 14. Jahrhunderts, das diesen Befund erklären könnte?

Unsere Studie ergab, dass Hallux valgus im 14. und 15. Jahrhundert deutlich häufiger vorkam als im 11. bis 13. Jahrhundert. Diese Zunahme scheint mit einem Wandel der Schuhmode im 14. Jahrhundert zu tun zu haben. Damals wurden Schuhe populär, die vorn lang und spitz zuliefen: die sogenannten Poulaines. Gegen Ende des Jahrhunderts gab es fast nur noch Schuhe, die zumindest leicht spitz zuliefen. Aber trotzdem scheint diese Mode nicht von allen Mitgliedern der Gesellschaft in gleichem Maße angenommen worden zu sein. Die Toten, die im Augustinerkloster begraben wurden, waren öfter von den Fehlstellungen der Zehen betroffen. Auch waren es – anders als heute – mehr Männer als Frauen.

Aber sollten die Mönche ihr Leben nicht eigentlich in Demut und Armut verbringen?

Ja, die Augustiner sind ein Bettelorden, der sehr strenge Regeln in Bezug auf angemessene Kleidung hat. Aber einige historische Quellen berichten, dass es im 13. und 14. Jahrhundert zunehmend üblich für Mitglieder des Klerus in Britannien wurde, modische Kleidung und Schuhe zu tragen. Dieser Trend betraf vor allem die hochrangigen Kirchenfürsten, und bereits auf dem 4. Laterankonzil im Jahr 1215 wurde dem Klerus verboten, »schnabelförmige« Schuhe zu tragen. Es scheint aber so, als hätten sich nicht alle an dieses Verbot gehalten, denn die Kirche sprach noch zahlreiche weitere Verbote aus.

Person, Mensch, Kunst
Spitze Schuhe galten im Mittelalter als schick. Foto: © INTERFOTO

Hallux valgus ist noch heute eine häufige Fehlstellung

Sie haben auch eine hohe Anzahl von Brüchen in den oberen Extremitäten festgestellt – wie passt das zu den Fehlstellungen der Zehen?

Unsere Studie zeigt, dass Hallux valgus weitaus mehr ist als nur eine Unannehmlichkeit. Menschen, die über 45 Jahre alt sind und an Hallux valgus leiden, zogen sich signifikant öfter durch einen Sturz verursachte Knochenbrüche zu als Erwachsene desselben Alters ohne diese Fehlstellung. Das liegt an der wichtigen Rolle, die die große Zehe dabei spielt, den Oberkörper stabil zu halten. Wenn sie – wie beim Hallux valgus – in die Waagerechte verschoben ist, können Balance und Stabilität beim Gehen stark beeinträchtigt werden.

Was wissen wir über das Ende dieser schmerzhaften Mode?

Wie alle Modeerscheinungen verschwanden auch die Poulaines nach einer Weile wieder ganz von allein – und zwar Ende des 15. Jahrhunderts. Der Hallux valgus ist aber noch heute eine recht häufige Fehlstellung, zumindest in schuhtragenden Gesellschaften: Rund ein Drittel aller älteren Menschen über 65 Jahre leidet daran.

Der Artikel ist in der Ausgabe 03/2022 von P.M. Schneller Schlau erschienen.