Wer steckt hinter den nordischen Mythen?

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Allvater Odin, Donnergott Thor, Unruhestifter Loki: Die germanische Sagenwelt ist reich an magischen, hinterhältigen und wollüstigen Wesen. Hier die wichtigsten Figuren im Überblick

Autor: Manuel Opitz

Wagemutig stürmen sie in die Schlacht: Walküren, die überirdischen Frauengestalten aus der nordischen Mythologie, geleiten die Gefallenen nach Walhalla, dem Sitz des Götteroberhaupts Odin. Dort schenken sie den Toten Wein und Met ein – bis die Helden am Ende aller Tage mit den Göttern gegen die Riesen in einen letzten Kampf ziehen.

Düster, rätselhaft und schicksalsträchtig wie die Walküren, so wirken viele Mythen des Nordens. Die Nachfahren der nordgermanischen Stämme, die Skandinavien einst besiedelten, haben sie sich von Generation zu Generation weitererzählt. Bühne der Sagen sind zumeist Schweden, Norwegen und Dänemark.

Die alten Mythen faszinieren bis heute

Im Mittelalter wurden die überlieferten Mythen zu Pergament gebracht, in altnordischen Dialekten wie Altisländisch und Altnorwegisch. Sie sind verwandt mit den Sprachen der Südgermanen auf dem europäischen Festland. Das zeigt sich auch in der Mythologie: Nord- und Südgermanen greifen auf einen gemeinsamen Schatz an Geschichten und Götterfiguren zurück.

Weltanfang und Weltende, Kämpfen und Sterben, Werden und Vergehen: Die nordischen Mythen liefern eine Erklärung für das Dasein der Menschen und zeugen vom Weltbild der Germanen und Wikinger. Der alte Erzählstoff fasziniert bis in die Gegenwart – und inspiriert mit seinen vielschichtigen Protagonisten noch immer moderne Literaten, Musiker und Regisseure.

Thor: Der Donnergott

Er ist der Stärkste unter den Göttern – aber nicht der Schlaueste: Thor, Sohn von Allvater Odin und der Riesin Jörd (»Erde«), macht meistens Jagd auf Riesen, die großen Gegner der Götter. Er tritt auch als Beschützer gegen die bösen Mächte auf. Sein wichtigstes Attribut ist der mächtige Hammer Mjölnir, der wie ein Bumerang stets von selbst zu ihm zurückkehrt. Außerdem trägt er den Gürtel der göttlichen Kraft. Seinen Wagen lässt er von zwei Ziegenböcken ziehen. Das Praktische an den Tieren: Thor kann sie töten und verspeisen. Legt er anschließend ihre Knochen auf die Felle, dann sind die Ziegen am nächsten Morgen wieder fit. Berüchtigt ist Thor auch für sein Trinkvermögen und seinen Appetit: Er vertilgt schon mal mehrere Ochsen an einem Abend. Neben den Riesen ist er hinter der Midgardschlange her, einem weltumschlingenden Ungetüm, das im Ozean lebt. In der Entscheidungsschlacht zwischen Göttern und Riesen, der Ragnarök, liefert er sich einen epischen Kampf mit ihr. Thor war ein besonders populärer Gott: Als Donner- und Wettergott bescherte er Bauern Regen und fruchtbare Felder. Sein Hammer verkörperte das Zeichen für die germanisch-heidnische Religion – und galt als Gegensymbol zum christlichen Kreuz.

Njörd: Der Gott des Meeres

Er herrscht über Winde und Wellen: Njörd wohnt an der Küste in Nóatún (»Schiffshof«). »Man ruft ihn vor Seefahrten und Fischzügen an«, heißt es in der Snorra-Edda. Außerdem beruhige er Meer und Feuer. Wahrscheinlich geht der Name Njörd auf die alte germanische Erdgöttin Nerthus zurück. Von der missglückten Ehe mit Skadi (siehe rechts) abgesehen, tritt er als Vater von Freyr und Freyja in Erscheinung, die er angeblich mit seiner Schwester gezeugt hat. Njörd gehört zur Götterfamilie der Wanen, dem zweiten Göttergeschlecht neben den von Odin regierten Asen. Ursprünglich führten beide Gruppen Krieg gegeneinander, der jedoch unentschieden blieb. »Jeder verheerte das Land des anderen und richtete Schaden an«, heißt es in der »Saga von den Ynglingen«. Schließlich schlossen Wanen und Asen Frieden und tauschten Geiseln aus: So gelangte Njörd in das Reich von Odin.

Frigg: Die Muttergöttin

Sie ist die wichtigste Göttin der Asen: Frigg gilt als Beschützerin der Liebe und Ehe. Mit Odin zeugt sie den Lichtgott Balder. Sie ist eine unabhängige Frau mit eigenem Wohnsitz in der Götterwelt – und einer Reihe von Männern: Loki wirft ihr im Gedicht »Lokis Zankreden« vor, die beiden Brüder Odins »an die Brust gedrückt« zu haben. Selbst einem Sklaven soll sie sich hingegeben haben. Die fürsorglich-schützende Mutter weiß alles über das Schicksal, kann den prophezeiten Tod ihres Sohnes Balder aber nicht verhindern. In der Spätantike galt sie als Pendant zur Göttin Venus: Bei der Übersetzung des römischen Wochentages »Tag der Liebesgöttin Venus« wurde Friggs südgermanische Bezeichnung Frija zum Namensgeber für den »frîatac« – unseren heutigen Freitag.

Uller: Der Wintergott

Uller ist der Sohn von Thors Frau Sif, also dessen Stiefsohn. Er wohnt in Ydalir (»Eibentäler«) in einer selbst gebauten Halle, von wo aus er auf die Schneefelder und Schneeberge zur Jagd aufbricht. Dabei erweist er sich als exzellenter Schlittschuhläufer und Skifahrer. Da er zudem ein trefflicher Bogenschütze ist, gilt er auch als Gott des Winters und der Jagd. Außerdem, heißt es in der Snorra-Edda, sei es vorteilhaft, ihn bei Zweikämpfen anzurufen.

Skadi: Die Riesentochter

Als Trost dafür, dass Thor ihren Vater erschlagen hat – einen Riesen –, darf Skadi sich einen der Götter zum Mann nehmen. Allerdings muss sie ihre Wahl anhand der Füße der Kandidaten treffen. Sie wählt den mit den schönsten Füßen, in der Hoffnung, dass sie zum attraktiven Balder gehören. Stattdessen trifft es Njörd. Die Zufallsehe macht beide Partner unglücklich. »Ich konnte nicht schlafen in den Betten am Meer wegen des Vogelgeschreis«, klagt Skadi über Njörds Wohnort. Letztlich trennen die beiden sich, und Skadi geht eine Beziehung ein mit Götteroberhaupt Odin. Oft tritt sie als »Mannweib« auf: als schwerbewaffnete Kämpferin und Jägerin mit Pfeil und Bogen, weshalb sie auch als Göttin der Jagd gilt. Vermutungen zufolge wurde Skadi im europäischen Norden so sehr verehrt, dass der Name Skandinavien auf sie zurückgeht.

Loki: Der Bösewicht

Der ungeliebte Unruhestifter: Loki, unberechenbar, listig und selbstsüchtig, ist die »Schande aller Götter und Menschen«, berichtet die Snorra-Edda. »Hohn und Hass bring ich den hohen Göttern und mische Bosheit ins Bier«, verkündet Loki selbst im Gedicht »Lokis Zankreden«. Er stammt von einem Riesen ab, wird aber – dank der Fürsprache Odins – in Asgard, dem Reich der Asen, aufgenommen. Angeblich vermischen Loki und Odin gar ihr Blut, sind also Blutsbrüder. In den Sagen tritt er als Verwandlungskünstler auf: Mal nimmt er die Gestalt einer Fliege an, dann die eines Seehundes oder eines Lachses. Er wechselt sogar das Geschlecht, wird zur Frau, Riesin oder Stute.

In Asgard übernimmt Loki eine Doppelfunktion: Einerseits verschafft er den Göttern wertvolle Gegenstände, etwa Thors Hammer. Andererseits spinnt er Intrigen gegen die Bewohner Asgards: Loki trägt die Schuld am Tod Balders – und läutet damit überhaupt erst die Ragnarök ein. Davon abgesehen zeugt er mit einer Riesin drei mächtige Feinde der Götter: den Monsterwolf Fenrir, die Midgardschlange und die halb leichenblasse, halb rosafarbene Hel. Sie wachsen bei den Riesen auf, bis Odin sie gefangen nimmt. Fenrir wird in Fesseln gelegt, die Riesenschlange ins Meer geworfen und Hel in die Unterwelt verbannt. Erst im Mittelalter unter christlichem Einfluss entwickelt sich die Figur Lokis zum dämonischen Gegenspieler der Götter, dem Luzifer der nordischen Mythologie.

Heimdall: Der Wächter

Am Rande der Welt bewacht Heimdall die Regenbogenbrücke Bifröst, die Verbindung zwischen Himmel und Erde. Auf seinen Rücken rieselt Schlamm von dem Weltenbaum Yggdrasil, dem Zentrum des nordischen Mythenuniversums. »Er braucht weniger Schlaf als ein Vogel und sieht bei Tag wie bei Nacht 100 Meilen weit«, erzählt die Snorra-Edda. Heimdall gilt als Stammvater der Menschen. Als sich die Riesen zum finalen Angriff formieren, alarmiert er die Götter. In der Entscheidungsschlacht stellt er sich seinem alten Rivalen Loki.

Freyr: Der Anführer im Krieg

Er gilt als »Kriegsführer der Götter«: Freyr (»Herr«), Bruder von Freyja, tritt als Kämpfer und Fruchtbarkeitsgott auf, der über Regen und Sonne herrscht. Deshalb ist es »gut, ihn um die gute Ernte und um Frieden zu bitten. Er bestimmt auch über den Reichtum der Menschen«, heißt es in »Gylfis Täuschung«. In seinem Wagen wird er von seinem Eber Gullinborsti (»Goldborste«) durch Luft und Wasser gezogen. Zudem besitzt er ein Schiff, das zusammengefaltet werden kann – und in eine Tasche passt.

Freyja: Die Göttin der Liebe

Die schöne Freyja (»Herrin«), Tochter von Njörd und Schwester von Freyr, ist mit einem Mann Namens Od verheiratet. Sie ist unter Göttern wie Riesen ein Objekt der Begierde, scheint selbst aber nicht gerade wählerisch zu sein, denn Loki behauptet: »Von den Asen und Alben, die hier drinnen sind, ist jeder schon dein Liebhaber gewesen.« Auch ihr Bruder. Als die Götter die beiden Geschwister gemeinsam erwischen, erschrickt Freyja so sehr, dass sie gefurzt habe, will Loki wissen. Vor allem die Nordgermanen wandten sich in Liebesangelegenheiten an sie. Ihr Name steht zudem für materiellen Reichtum, da sie eine Vorliebe für kostbaren Schmuck hat (siehe Anhänger rechts).

Bragi: Der Gott der Dichtung

Er sticht unter den Göttern mit Redegewandtheit und Wortakrobatik hervor: Bragi, Sohn von Odin, »weiß am meisten von der Dichtung«, berichtet die Snorra-Edda. Auf seine Zunge sind Runen geritzt – ein Zeichen für ausgezeichnete Liederkenntnisse. Odin soll ihn beauftragt haben, Lieder für die Götter und die gefallenen Helden in Walhalla zu komponieren. Wohl deshalb tritt Bragi mehrfach als Dichter und Sprecher der Götter auf. Nach ihm wurde die Dichtkunst auf Norwegisch »bragr« genannt.

Kvasir: Der weiseste Gott

Er ist das Produkt eines Friedensschlusses: Als die beiden ursprünglich verfeindeten Götterfamilien der Asen und Wanen ihren Krieg beendeten, spuckten sie in einen Krug – und aus dem Speichel wurde Kvasir geformt. Als weisestes und klügstes Wesen der Welt reist er in Menschengestalt durch die Lande, um sein Wissen unter die Leute zu bringen. Doch dann fällt er zwei heimtückischen, mörderischen Zwergen zum Opfer, die aus seinem Blut und Honig den Dichtermet brauen, ein ominöses Weisheitsgetränk, das jeden zum Poeten macht.

Balder: Der Lichtgott

Der Schöne und Gute: Balder (»der Leuchtende«), Sohn von Odin und Frigg, erscheint in der Sagenwelt als »bester Gott«, sprachgewandt und freundlich. Er wird allseits geschätzt, außer vom neidischen Loki. Als ihn üble Träume plagen, befürchten die Asen, dass er stirbt. Deshalb nimmt seine Mutter Frigg allen potenziellen Gefahrenquellen – Tieren, Feuer, Wasser, Bäumen, Steinen, Metallen – den Eid ab, ihren Sohn nicht zu verletzen. Nur die unscheinbare Mistel vergisst sie. Loki bastelt aus der Pflanze einen Wurfpfeil und drückt ihn dem blinden Gott Höd in die Hände, damit dieser zum Spaß auf Balder zielt. Der stirbt, vom Pfeil getroffen – zum Unglück von Menschen und Göttern, denn Balders Tod kündigt das nahende Weltende an.

Odin: Der Oberhaupt der Götter

Ob »Sieggott«, »Langbart«, »Speergott«, »Weiser«, »Blinder«, »Maskierter« oder »Allvater«: Odin (oben) taucht in der nordischen Mythologie mit etwa 170 Namen und Umschreibungen auf. »Er regiert alles, und so mächtig die anderen Götter auch sind, sie dienen ihm alle wie Kinder ihrem Vater«, heißt es in der mittelalterlichen Erzählung »Gylfis Täuschung«. Odin ist der Anführer der Asen, der zweiten Götterfamilie neben den Wanen. Als Kriegsgott schlüpft er in die Rolle des Schlachtenlenkers. Er schürt zudem gern Konflikte unter den Menschen, um herauszufinden, welche der in den Kämpfen gefallenen Krieger er in seine Walhalla (»Halle der Erschlagenen«) aufnimmt. Auf dem Gebäude steht die Ziege Heidrun: Aus ihrem Euter strömt Met, das die toten Soldaten bei Kräften hält. Schließlich sollen sie am Ende aller Tage, in der Ragnarök, für Odin gegen die Riesen kämpfen, die Feinde der Götter.

Sein Interesse an den Menschen macht ihn zum Beschützer der Könige. Odins wichtigste Attribute sind sein Speer Gungnir und das achtbeinige Pferd Sleipnir. Er kann sich in Tiere wie Adler verwandeln, reist in der Menschenwelt aber häufig als Greis mit Schlapphut durch die Lande. Jener Gott, der bei den Südgermanen als Wodan (»der Wütende«) verehrt wurde, steht keineswegs nur für Krieg: Als Hüter der Dichtkunst bringt er die Poesie zu den Göttern und Menschen. Vor allem aber erscheint Odin in den Sagen als Gott der Weisheit: Seine Wissbegierde wird etwa durch seine beiden Raben ausgedrückt, die ihm morgens Nachrichten zuflüstern, sodass er stets über alle Geschehnisse informiert ist. Er unternimmt alles, um mehr über die Prophezeiung vom Ende der Welt herauszufinden: Am Brunnen Mimirs, der Quelle der Weisheit, opfert er sogar ein Auge, um an geheimes Wissen zu kommen.

Der Artikel ist in der Ausgabe 01/2021 von P.M. Fragen & Antworten erschienen.

Sarah studierte Modejournalismus und Medienkommunikation in München und Berlin. Auf ihrem Weg zum Schreiben machte sie Halt bei Film und Fernsehen und im Marketing. Ihre Interessen liegen vor allem im Tierschutz, dem Feminismus und in der Kunst – und natürlich im Entdecken von spannenden Geschichten.