Erfand ein deutscher Arzt die Insulintherapie?

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Foto: © Science Photo Library
Bis die Insulintherapie erfunden wurde, galt Diabetes als Todesurteil. Die Forschungsarbeiten eines Berliner Arztes wurden dabei jahrelang übersehen.

(Text: Astrid Viciano)

Noch vor 100 Jahren verschrieben Ärzte Kindern mit Diabetes eine so strenge Diät, dass die ohnehin abgemagerten Patienten oft an der Hungerkur starben. Sie litten an Diabetes vom Typ 1, ihre Bauchspeicheldrüse produzierte nicht mehr genug Insulin, um den Zucker nach den Mahlzeiten aus dem Blut in die Körperzellen zu schleusen. »Diabetes war früher ein Todesurteil«, sagt der Biochemiker Kersten Hall von der Universität Leeds, Autor eines Buches über die Geschichte der Erkrankung.

Umso tragischer scheint es, dass die Arbeiten des Berliner Arztes Georg Zülzer zu Diabetes jahrelang übersehen wurden. Er hatte bereits in den Jahren 1905 bis 1908 beobachtet, dass ein Extrakt der Bauchspeicheldrüse den Blutzucker von Hunden mit Diabetes senken konnte. Mindestens sechs menschliche Patienten behandelte Zülzer mit seinen Spritzen, im Jahr 1907 zum Beispiel ein unterernährtes, schwer krankes sechsjähriges Kind. Aber auch Erwachsene, die durch Überzuckerung ins Koma gefallen waren, erhielten den Extrakt, sie erwachten kurz. Zülzer nannte seinen Extrakt Acomatol und meldete im Jahr 1908 ein Patent dafür an, in Deutschland, Großbritannien und den USA.

»Diabetes mellitus dagegen galt als kuriose Krankheit, die nur sehr wenige Menschen betraf«

Das interessierte zu Beginn des 20. Jahrhunderts jedoch kaum jemanden, die Ärzte hatten genug damit zu tun, Infektionskrankheiten wie etwa Tuberkulose zu bekämpfen. »Diabetes mellitus dagegen galt als kuriose Krankheit, die nur sehr wenige Menschen betraf«, erklärt Oliver Falk, Medizinhistoriker an der Charité. Noch nahmen Mediziner nämlich nur die dramatischen Verläufe wahr, die Kinder mit Typ-1-Diabetes oder Erwachsene mit Spätfolgen des Typ-2-Diabetes entwickelten. Damals unterteilten Ärzte die Erkrankung auch noch nicht in zwei verschiedene Typen. »Da Diabetes über viele Jahre hinweg keine Symptome auslöst, war die Erkrankung für die Ärzte nicht zu erkennen«, sagt Falk. Denn ihnen fehlten zunächst die technischen Methoden, um den Harnzucker oder den Blutzucker schnell und unkompliziert zu messen.

Dennoch arbeitete Zülzer unermüdlich an seinem Extrakt, begann im Jahr 1911 eine Kooperation mit dem Schweizer Unternehmen Hoffmann-La Roche und einem dort angestellten Chemiker. Im August 1914 gelang es den beiden, bei Hunden den Blutzuckerspiegel deutlich zu senken. Und auch bei Menschen schlugen die Extrakte an. Dennoch ließ der Vorstand des Pharmaunternehmens das Projekt fallen: Er hielt es für undenkbar, dass sich Patienten über viele Jahre hinweg mehrmals täglich spritzen würden. Und Zülzer musste noch im selben Monat als Stabsarzt an die Front und erkrankte dort schwer.

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Diabetes-Patienten spritzen sich ihr Insulin in der Regel selbst. Foto: © imago images/Westend61

1922: Kanadischen Wissenschaftlern gelingt erfolgreiche InsulinTherapie eines Patienten

Nach dem Ersten Weltkrieg erlebte er dann, wie andere Forscher den Ruhm ernteten, der ihm zumindest teilweise zugestanden hätte: Im Jahr 1922 berichteten kanadische Wissenschaftler von der erfolgreichen Therapie eines Patienten. Leonard Thompson, 13 Jahre alt, blieben eigentlich nur noch wenige Monate zu leben, als die Mediziner ihm einen Extrakt aus der Bauchspeicheldrüse spritzten, der das Hormon Insulin enthielt. Innerhalb weniger Wochen verwandelte sich der ausgemergelte Leonard in einen strahlenden Jungen. Ein Jahr später erhielten diese Forscher den Nobelpreis.

Der Artikel ist in der Ausgabe 04/2022 von P.M. Schneller Schlau erschienen.