Wie früh empfinden Neugeborene Schmerz?

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Newborn, Person, Baby
Foto (C): ddp/imageBROKER/Jeff Tzu-chao Li
Einst wurden Frühgeborene ohne Schmerzmittel behandelt. Heute weiß man allerdings, dass die Schmerzdiagnostik bei ihnen unabdingbar ist.

Nicht lange ist es her, dass Mediziner Neugeborenen gar kein Schmerzempfinden zugestanden. Bis in die 1980er-Jahre operierten Ärzte kleine Kinder ohne Schmerzmittel, sie glaubten, dass die Nervenbahnen noch nicht mit den nötigen Markscheiden umhüllt wären, um die Schmerzimpulse rasch an das Gehirn weiterzuleiten. 

Diese Sicht änderte sich erst nach dem Tod von Jeffrey Lawson. Im Jahr 1985 kam der Junge, 760 Gramm leicht, in den USA viel zu früh zur Welt und starb nach einer Operation am Herzen. Seine Mutter erfuhr auf Nachfrage, dass ihr Sohn während des Eingriffs nur ein Mittel erhalten hatte, das die Muskeln des Kinders ruhig stellte. Schmerzmittel hatte er dagegen keine erhalten. »Das gab damals einen Riesenaufschrei«, sagt Eva Cignacco Müller, Pflegewissenschaftlerin und Hebamme an der Berner Fachhochschule. Später zeigten zwei Studien unter anderem, dass Neugeborene in einer Operation ohne Schmerzmedikamente mehr Kreislaufprobleme hatten und ihr Körper mit Stresshormonen überflutet wurde.  

Frühgeborene zeigen ihren Schmerz sehr subtil

Inzwischen wissen Mediziner, dass die Schmerzdiagnostik vor allem bei Frühgeborenen besonders wichtig ist, um langfristige Folgen für das Schmerzempfinden zu vermeiden. Denn ihre Schmerzreaktionen sind noch sehr subtil. Nur manche von ihnen kneifen die Augen zu, spreizen ihre Finger oder Zehen, wenn ihnen auf der Intensivstation Unangenehmes widerfährt.  

Daher müssen Ärzte und Pflegepersonal frühgeborene Kinder genau beobachten, um die subtilen Zeichen wahrnehmen und richtig deuten zu können, forderten deutsche und österreichische Mediziner im vergangenen Jahr im Fachblatt »JAMA Pediatrics«. 

Besonders schwach reagieren jene Frühchen auf Schmerzen, die vor der 28. Schwangerschaftswoche zur Welt gekommen sind. Und ausgerechnet diese Babys müssen in der Klinik besonders viele unangenehme Prozeduren über sich ergehen lassen. Blutabnahmen. Punktionen. Absaugen von Sekret aus Nase, Mund und Rachen. »Wir müssen in unserem Alltag ständig abwägen«, sagt Philipp Deindl, Oberarzt in der Sektion Neonatologie und Pädiatrische Intensivmedizin des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf: wie viele Medikamente die Ärzte den Neugeborenen zumuten können – und wie viel Schmerzen.

(Text: Astrid Viciano)

Der Artikel ist in der Ausgabe 12/2020 von P.M. Fragen & Antworten erschienen.

Sarah studierte Modejournalismus und Medienkommunikation in München und Berlin. Auf ihrem Weg zum Schreiben machte sie Halt bei Film und Fernsehen und im Marketing. Ihre Interessen liegen vor allem im Tierschutz, dem Feminismus und in der Kunst – und natürlich im Entdecken von spannenden Geschichten.