Vulkane: Das Drama von La Palma

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Foto: © picture alliance / Amazing Aerial Agency
Der Ausbruch des Cumbre Vieja auf den Kanaren im vergangenen Herbst zog viele Menschen in seinen Bann, auch Vulkanologen. Welche Folgen hatte er? Wie viel ahnte die Forschung von der drohenden Eruption?

(Text: Siebo Heinken)

Pablo González weiß noch genau, wie es war, als der Vulkan auf La Palma ausbrach – so etwas erlebt er nicht jeden Tag.

»Ich verfolgte die Lage schon seit einer Weile von der Nachbarinsel Teneriffa, wo ich lebe«, sagt der Geophysiker. »Eine Woche zuvor hatten Seismometer erstmals anormale Bewegungen gemessen. In 10 bis 15 Kilometer Tiefe gab es merkwürdige Vorgänge. Zudem hob sich der Vulkan. Mir war klar: Es wird ernst.« 

Am 19. September, wenige Minuten nach 15 Uhr, brach der Cumbre Vieja auf. Rauch stieg auf, flüssiges Gestein spritzte und quoll aus dem Erdinnern. Es begann, Asche zu regnen. Sie bedeckte den Südwesten von La Palma mit einer grauen Decke, und oberhalb des Städtchens El Paso wuchs ein neuer Vulkankegel empor. 

DEr spektakuläre Ausbruch lockte abend für abend hunderte Schaulustige an

Es war ein schauriges Drama, das der Feuerberg im Spätherbst 2021 aufführte – und so schön, dass Hunderte Schaulustige Abend für Abend vor der Kirche von El Paso gebannt die Lichtshow verfolgten, die sich vor ihnen darbot. Feuerrot pulsierte der Cumbre Vieja. Immer heller ließ einsetzende Dunkelheit die Lavaströme strahlen, die er den Hang hinab zum Meer schickte. Darüber wölbte sich schließlich karminrot der Himmel. Ganz hinten stieg eine zarte weiße Wolke auf – dort ergoss sich das flüssige, immer noch mehr als 900 Grad Celsius heiße Gestein in den Atlantik.

Pablo González arbeitet für den Obersten Rat für Wissenschaftliche Forschung in Spanien, er kennt die Vulkane der Kanarischen Inseln. Zusammen mit Thomas Walter vom Geoforschungszentrum (GFZ) Potsdam und seinem Team ist er an diesem Novembertag oberhalb des jungen Kegels unterwegs. Die Wege sind durch die feine Asche glatt wie von Neuschnee. Vorsichtig steuert González seinen Geländewagen durch die Haarnadelkurven, zwei, drei Kilometer vom Vulkan entfernt. Alle Forscherinnen und Forscher tragen Helm und Leuchtweste, die Gasmasken liegen griffbereit, man kann nie wissen. Sie suchen – und finden – mithilfe von Geodaten und Fotos Geräte, die einige Kolleginnen wenige Wochen zuvor installiert haben. 

Glühendes Gestein faucht aus dem Krater, Qualm wirbelt in den Himmel. Foto: © imago images/Future Image

Die Forschenden nutzen Instrumente wie Seismografen, GPS-Sensoren und Drohnen

Im Hintergrund grummelt der Vulkan. Er grollt er wie ein fernes Gewitter. Faucht wie eine wütende Wildkatze. Und bald darauf donnert er, als starte nebenan ein Düsenjet. Noch mehr Asche und Gas steigen auf. Einige Kilometer hoch wabert der Pilz über La Palma.

Der Feuerberg lässt keinen Zweifel: Nichts wird seinen Ausbruch stoppen. Seine Wildheit. Die Urgewalt. Nur er selbst, wenn sein Vorrat an Energie und an Magma endlich aufgebraucht ist, das sich den Weg aus der Tiefe an die Erdoberfläche bahnt und als Lava großflächig über dem Westen der Kanareninsel verteilt.

Immer wieder sieht Thomas Walter, Professor für Vulkanologie und Georisiken, hinüber zu dem Vulkan. Ein düsterer Anblick. Binnen kurzer Zeit hat sich die Landschaft völlig verändert. Grau steht der über 200 Meter hohe Kegel, drum herum ein Leichentuch aus Asche. Es bedeckt ein Kiefernwäldchen, nur die Spitzen ragen aus der monochromen Decke. Die anderen Bäume: braun vom Schwefeldioxid. Kein Insekt summt und kein Vogel fliegt vorbei. 

Eine Bühne der Zerstörung. Doch Walters Augen leuchten. Selbst erfahrene Forscher wie er kommen einem Ausbruch nur selten so nah.

Sein Team will die einige Wochen zuvor von der Vulkanologin Nicole Richter und ihrer Gruppe installierten Messgeräte auslesen: Seismometer registrieren Erdbeben, GPS-Sensoren zeigen an, ob der Vulkan sich ein wenig verschoben hat. Elektronische Neigungsmesser – Tiltmeter – zeigen auf den Bruchteil eines Grades genau, ob sich die Flanke des Berges verändert hat. Und mit den Instrumenten können die Wissenschaftler ein genaues Bewegungsmuster des Bodens erstellen. Mit Drohnen gemachte Aufnahmen wollen sie digital zu 3-D-Darstellungen des Kraters und seiner Umgebung zusammensetzen.

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Die Vulkanologin Nicole Richter (Mitte) vom Geoforschungszentrum (GFZ) Potsdam und zwei Kolleginnen installieren Tiltmeter und andere Messgeräte auf dem Vulkan. Mit dabei: Der spanische Geophysiker Pablo González (rechts) Foto: © Arturo Rodriguez/GEO

Rund 1500 Vulkane auf der Erde sind aktiv

Die Forschenden wollen wissen, wie sich dieser neue Vulkan verhalten wird. Wie er den Vulkanismus auf La Palma und anderen Kanareninseln beeinflusst. Aber auch: wie sich dieses neue Wissen auf andere Feuerberge übertragen lässt. 

Denn die Wissenschaft ist einig: Vulkane gefährden die moderne Zivilisation. Rund um den Globus sind Feuerberge verteilt, rund 1500 sind aktiv. Ein Zehntel der Weltbevölkerung – ungefähr 800 Millionen Menschen – lebt in einem Radius von 100 Kilometern um Vulkane, die jederzeit erwachen können: Tokio in Sichtweite des Fuji, Mexiko-Stadt unweit des Popocatépetl, Seattle nahe am Mount Rainier, Goma unterhalb des Nyiragongo.

Und noch immer, nach jahrzehntelanger Forschung, müssen Grundlagen geklärt werden: Wann passieren Ausbrüche? Wie werden sie ablaufen, wie lange dauern? »Je mehr wir lernen, desto mehr Fragen kommen auf«, sagt Thomas Walter. »Von verlässlichen Prognosen sind wir noch weit entfernt.«

JEde Eruption gibt den Forschenden neue Hinweise, wie sich Vulkane verhalten

Die Vulkanologen können nicht direkt ins Innere der Feuerberge und der Erdkruste blicken. Aber jede Eruption irgendwo auf der Welt gibt ihnen neue Hinweise darauf, wie Vulkane sich verhalten – vor allem, seit eine Katastrophe im Nordwesten der USA die Welt erschütterte. Einer der dramatischsten Ausbrüche der jüngeren Geschichte. 

Im März 1980 gab es am Mount St. Helens im Bundesstaat Washington eine Serie kleinerer Erdbeben, dann sprengten Explosionen die Eiskappe am Gipfel. Forschungsteams reisten an, um den Vulkan zu untersuchen. 

Sie warnten vor einer größeren Eruption. Aber was dann kam, hinterließ sie fassungslos. Am 18. Mai rutschte die Nordflanke des Vulkans ab. Und auf einmal explodierte der Berg. Mit Überschallgeschwindigkeit fegte ein pyroklastischer Strom bis zu 25 Kilometer nach Norden und riss alles mit sich, den Wald, Häuser, Autos. Gewaltige Schlammströme, Lahars genannt, wälzten sich zu Tal. 57 Menschen starben, die Landschaft wurde weiträumig zerstört. 

Es ist lebenswichtig, Ausbrüche endlich besser vorhersagen zu können

Der Ausbruch war eine Lehrstunde für die Vulkanologie. Er zeigte, wie instabil selbst ein mächtiger, fast 3000 Meter hoher Vulkanberg sein kann. Und: wie lebenswichtig es ist, Ausbrüche endlich besser vorhersagen zu können.

Allein in den vergangenen Monaten kamen weitere Gründe dazu: 

März 2021 – Ausbruch des Fagradalfjall auf Island.

September – La Palma.

Dezember – Beim Ausbruch des Semeru auf der dicht besiedelten indonesischen Insel Java sterben mehrere Dutzend Menschen, große Schäden entstehen. 

Januar 2022 – Die Explosion der Vulkaninsel Hunga Tonga-Hunga Ha‘apai, eine der weltweit größten Eruptionen seit Jahrzehnten, richtet große Zerstörungen auf dem Tonga-Archipel im Südpazifik an. Sie löst einen Tsunami aus, der Küstenbereiche in Japan, Alaska und Peru überschwemmt. Durch die Eruption bricht ein Seekabel; wochenlang ist die Datenleitung für Telefon und Internet nach Tonga gekappt. Der Nasa zufolge war dieser Ausbruch mehrere Hundert Mal stärker als die Sprengkraft der Atombombe, die im August 1945 die Stadt Hiroshima zerstörte.

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Der Vulkan Cumbre Vieja auf La Palma spuckt auch zwei Monate nach Beginn des Ausbruchs weiter Lava und Aschewolken. Foto: © imago images/Future Image

Viele VUlkane werden mit Messgeräten beobachtet

Schon viel kleinere Eruptionen können in der modernen Welt erhebliche Folgen haben, das bewies der Ausbruch des Eyjafjöll auf Island im März 2010. Rund 100 000 Flüge mussten damals gestrichen werde, der wirtschaftliche Schaden wird auf fast fünf Milliarden Euro geschätzt. 

Viele Vulkane werden mit Messgeräten beobachtet, um die physikalischen und chemischen Vorgänge in ihrem Innern zu verstehen. Doch ein grundlegendes Problem kann die Forschung nicht lösen: »Wir bewegen uns in geologischen und nicht in menschlichen Zeitskalen«, sagt Nicole Richter, die kurz nach dem Ausbruch mit der ersten Forschergruppe des GFZ auf die Kanaren reiste. »Feuerberge haben eine lange Entstehungsgeschichte, die Vulkaninsel La Palma ist zum Beispiel zwei Millionen Jahre alt. Die modernen, dichten Netzwerke von Messgeräten sind aber erst in den vergangenen etwa 30 Jahre installiert worden. Umgerechnet auf die 24 Stunden eines Tages, überwachen wir einen Vulkan wie den Cumbre Vieja also gerade mal die letzten 1,3 Sekunden seiner Geschichte. Über die restlichen 23 Stunden, 59 Minuten und 58,7 Sekunden wissen wir sehr wenig.«

Die Insel La Palma ist vulkanischen Ursprungs

Die Geowissenschaftlerin ist eine Weltreisende der Vulkanforschung: Ihre Masterarbeit schrieb sie über den Kilauea auf Hawaii, die Doktorarbeit über den Fogo auf den Kapverden. Sie erkundete Vulkane in Chile, Japan, Indonesien und während eines zweieinhalbjährigen Forschungsaufenthalts den Piton de la Fournaise auf La Réunion im Indischen Ozean. Seit Kurzem ist sie Juniorprofessorin an der RWTH Aachen. »Es sind die Urgewalten, die mich faszinieren, die enorme Energie, die beim Vulkanausbruch freigesetzt wird«, sagt sie.

La Palma ist wie alle Inseln des Archipels vulkanischen Ursprungs. Vor 125 000 Jahren bildete sich der Cumbre Vieja, ein gut 14 Kilometer langer vulkanischer Bergzug – die geologisch aktivste Zone der Insel. Ungefähr einmal pro Jahrhundert öffnet sich dort der Boden, alte Lavaströme zeugen von diesen Ausbrüchen, etwa in den Jahren 1646 und 1712. Im 19. Jahrhundert war Feuerpause, 1949 und 1971 dann weitere Ausbrüche. Schließlich, ganz in der Nähe des letzten, die Eruption im Herbst 2021.

Der Artikel ist ein Auszug aus der Titelgeschichte der Ausgabe 07/2022 von P.M.