Wie fängt man Sternenstaub?

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Foto (C): Jon Larsen
Foto (C): Jon Larsen
Der Jazzmusiker Jon Larsen begann vor mehr als zehn Jahren, Staubkörner in aller Welt zu sammeln. Und veränderte die Astronomie.

Text: Stephan Draf

0,2 Millimeter groß, schwarz, von einem Mohnsamen nicht zu unterscheiden. Ein schwarzer Punkt auf einem weißen Terrassentisch. Die meisten Menschen hätten den Staubkrümel weggewischt – fort damit. Für Jon Larsen aber, selbst um die 1,90 Meter groß und rund 100 Kilogramm schwer, war der schwarze Punkt das Steinchen des Anstoßes. Der Norweger stolperte vor zehn Jahren über ihn in eine lange, lange Reise hinein, die ihn bis an den Rand des Universums und bis zum Beginn der Zeit führen sollte. Zum Glück hatte er seine Brille auf: »Sonst hätte ich den Krümel gar nicht gesehen.«

Aber so erinnerte sich Larsen im Juli 2009 an seine Kindheit, in der er mit einem Freund mit Begeisterung in Steinbrüchen nach schönen Kristallen gesucht hatte. Woher also kam dieses Steinchen? Von einem Flugzeug? Hatte es ein Vogel verschleppt? Larsen begann, im Internet zu suchen, und stieß schnell auf eine Abhandlung zum Thema Mikrometeoriten. »Spätestens jetzt«, erinnert er sich im Gespräch, »spürte ich eine heiße Welle von Adrenalin.« Er las sich durch das wenige, was es im Internet gab.

Pro Tag fallen circa 100 Tonnen Sternenstaub auf die Erde

Die meisten Quellen waren sich einig: Der Durchmesser von Mikrometeoriten liegt unter zwei Millimetern. Sie können Milliarden Jahre alt sein, die meisten hatten sich wohl im Asteroidengürtel zwischen den Bahnen von Mars und Jupiter versammelt, bevor sie auf die Erde fielen. Sie bestehen hauptsächlich aus den Eisenoxiden Wüstit und Magnetit, sind also ferromagnetisch. Aber zu finden, da waren sich alle Forscher einig, seien sie nur in der Antarktis, vor blendend weißem Schneehintergrund. Schließlich fand er noch eine elektrisierende Zahl: Pro Tag fallen circa 100 Tonnen Sternenstaub auf die Erde – für Larsen war nun klar, dass er davon ein paar Gramm finden wollte.

In den folgenden Jahren sollten ihn Fußgänger in aller Welt dabei ertappen, wie er, mit einem kleinen Magneten und einer Plastiktüte bewaffnet, Dreck vom Straßenasphalt sammelte. In alle Welt kam Larsen wegen seines Berufs: Er ist Jazzgitarrist und mit seiner Band »Hot Club de Norvège« nicht nur in seinem Heimatland eine große Nummer. Seine drei Kollegen gewöhnten sich daran, dass Larsen bei Tourneen auch auf Dächer stieg, immer auf der Suche nach Staubkügelchen.

Was er nach Hause brachte, untersuchte Larsen unter seinem – recht guten – Mikroskop aus Jugendtagen. Er legte Körnchen in eine Petrischale, bewegte sie mit einem Zahnstocher, betrachtete sie. Er lernte, einige offensichtlich menschengemachte Partikel zu identifizieren: Rostpartikel oder metallische Späne von Autoteilen zeigen Spuren von Werkzeugen oder den Prozessen, die sie geformt haben. Er fand Fragmente von Karosserierost und Korkenzieherspäne von Bohrungen.

Was ist überhaupt ein Mikrometeorit?

Gut 90 Prozent des interplanetaren Materials sind Mikrometeoriten – die Teilchen sind meist kleiner als einen Millimeter. Sie können aus einer Zeit vor der Entstehung der Sonne stammen, dann sind sie Milliarden Jahre alt. Aber wie identifiziert man sie? Innerhalb der akademischen Sternenstaub-Gemeinschaft galt um 2010 als sicher, dass man Mikrometeoriten in bewohnten Gebieten nicht finden kann – weil man sie vom menschengemachten Staub nicht unterscheiden könne. Zudem hatte man die in der menschenleeren Antarktis gefundenen Mikrometeoriten zerschnitten und ihre innere Struktur analysiert – die Außenseite hatte man völlig außer Acht gelassen. Larsen trug immer mehr Material zusammen – aus Thailand, aus Indien, aus Spanien. »Manchmal fragten mich die Menschen, was ich da im Dreck suchen würde. Sie waren fast erleichtert, wenn ich von den Mikrometeoriten erzählte. Sie hatten gedacht, dass ich so arm sei, dass ich Kippen sammeln müsste. Oder dass ich mich aus irgendeinem Grund für Hundescheiße interessierte.«

Manchmal fragten mich die Menschen, was ich da im Dreck suchen würde.

Jon Larsen, Hobby-Astrogeologe und Jazzmusiker

Larsen spezialisierte sich bei seiner Suche auf Sphärulen, magnetische Schmelzkügelchen, manche schwarz, andere stahlblau, einige ähneln Fußbällchen aus Metall. Viele der Funde stammen aus menschlicher Produktion, aber, so hatten Studien versichert, einige zweifelsfrei identifizierte Mikrometeoriten hätten ebenfalls diese Form. Noch aber fehlte Larsen ein Ausschlussverfahren, das Ordnung in seine Suche bringen konnte.

Die Experten halfen ihm zunächst kaum. Welchen Forscher er auch anschrieb, meist erhielt er keine Antwort – oder man beharrte auf der Feststellung, dass Mikrometeoriten auf bewohntem Gebiet einfach nicht zu finden seien. Vergeblich versuchte Larsen, sich mit Matthew Genge, einer Meteoriten-Koryphäe, in London zu verabreden: Der Professor ließ ihn buchstäblich im Regen stehen.

Mit dem Elektronenmikroskop zum Ziel

Einen Bruder im Geiste fand Larsen in Norwegen: Jan Kihle, Geologe, vor allem aber technikbegeisterter Fotograf mit einer Vorliebe für das ganz Kleine. Er hatte eine Konstruktion ersonnen, in der er ein Elektronenmikroskop mit einer Kamera und einem Rechner verband – damit gelangen den Männern Bilder, auf denen ein halbmillimetergroßer Krümel auf Fußballgröße wächst. Die Auflösung der Bilder ermöglichte Larsen, immer mehr menschengemachten Staub auszusortieren. Außerdem kann man aus Bildern eines Elektronenmikroskops Rückschlüsse auf die chemische Zusammensetzung der Objekte ziehen.

Nach 550 Feldversuchen, notiert Larsen in seinem Buch »Sternenjäger«, konnte er unter anderem folgende Dinge zweifelsfrei bestimmen: »abgerundete Sandkörner, menschlich erzeugte Rostflocken, vulkanische Asche, reflektierende Glaskugeln, natürlich vorkommenden Magnetit, Produkte von Feuerwerkskörpern«.

Eines Tages gelang Larsen und Kihle ein Bild eines länglichen Steines mit einer besonderen Oberflächenstruktur, die chemische Analyse ergab einen hohen Anteil Magnesiumsilikat, charakteristisch für außerirdisches Gestein. Mit dem Foto passte Larsen den Meteoritenforscher Genge bei einem Vortrag in Oslo ab. Diesmal gab ihm Genge eine Audienz, betrachtete das Bild auf Larsens Rechner und sagte: »Das ist ein Mikrometeorit.« Larsen war wie vom Donner gerührt. Wie könne Genge so sicher sein, fragte er. »Weil sie exakt so aussehen.« Nun war klar: Larsen hatte den ersten Mikrometeoriten auf bewohntem Gebiet gefunden.

Genge wurde zu einem Verbündeten: Gemeinsam werteten die Männer in Genges Londoner Uni-Labor sämtliche Steine aus, die Larsen im Verdacht hatte, außerirdischen Ursprungs zu sein. Mit überwältigendem Ergebnis: Alle Steine, über 300, waren chondritisch, wiesen also kleine Silikateinschlüsse auf, die Chondren, die bei irdischem Material nicht zu finden sind. Genge schlug vor, die Ergebnisse in einem Fachblatt zu publizieren. Am Tag der Veröffentlichung, so Larsen, »explodierte mein E-Mail-Fach. Ich bekam Hunderte Anfragen von Wissenschaftlern und Journalisten.«

Auf den Dächern der Nasa

Anfang 2017 erklomm Larsen ein Dach in Houston, Texas. Dann stand er auf dem Sternenstaub-Labor der Nasa – dort lagern die größten Meteoritenstücke der Welt. Jahrelang hatten die Forscher Larsens Mails ignoriert, sie waren sicher, dass Mikrometeoriten nicht in Städten gefunden werden konnten. Nun sammelten sie mit Larsen Krümel vom Dach (fünf Steinchen entpuppten sich als Meteoriten) – und behandelten den Musiker als einen der Ihren.

Und heute? Larsen sammelt nur noch auf Dächern, die Ausbeute ist größer, weil Menschen eher selten Dächer verunreinigen. Er wird nach 40 Jahren mit der Musik aufhören, die Universität Oslo hat ihm eine Gastprofessur angetragen. Werner Herzog, der legendäre Regisseur, besuchte ihn, sie suchten nach Steinchen, 0,2 Millimeter groß, schwarz und von Mohnsamen kaum zu unterscheiden.

Foto (C): Anna Schuch
Foto (C): Anna Schuch

Simone Thürnau und Stephan Draf, P.M.-Redakteure, fegten mit Jon Larsen (Mitte) auf dem Dach des Hamburger Verlagshauses Gruner + Jahr viele Steinchen zusammen – Larsen will in Oslo überprüfen, ob Mikrometeoriten dabei sind.

Sarah studierte Modejournalismus und Medienkommunikation in München und Berlin. Auf ihrem Weg zum Schreiben machte sie Halt bei Film und Fernsehen und im Marketing. Ihre Interessen liegen vor allem im Tierschutz, dem Feminismus und in der Kunst – und natürlich im Entdecken von spannenden Geschichten.