Vom Klimagas zum Wertstoff

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Foto: © Greg White
Anstatt es in der Atmosphäre anzuhäufen, lässt sich Kohlendioxid einfangen und als Rohmaterial nutzen: zum Beispiel zur Herstellung von Kunststoffen. Das hilft gegen den Treibhauseffekt und schont fossile Ressourcen

(Text: Klaus Bachmann)

So angenehm kann Klimaschutz sein: sich ein paar bequeme Socken überziehen, ein Glas Wodka eingießen und auf einer paradiesisch weichen Matratze entspannen. Alle drei Produkte haben eines gemeinsam: In ihnen steckt Kohlendioxid, jenes Gas, das wir seit Jahrzehnten in der Erdatmosphäre anhäufen und das uns in Zukunft mächtig einzuheizen droht. Anstatt aus Schornsteinen in die Luft zu entweichen, ist in unserem Beispiel das CO₂ im Alkohol und den Kunststoffen von Socke und Matratze fest gebunden. Ein willkommener Zusatzeffekt des CO₂-Recyclings: Das Öl oder Gas, das ansonsten für die Herstellung von Strumpf und Matratze gebraucht würde, kann in der Erde bleiben. Aus dem Klimaschädling Kohlendioxid wird so ein wertvoller Rohstoff. 

Einfangen und Nutzung von Kohlenstoff, kurz auf die Formel CCU (Carbon Capture and Utilization) gebracht, ist ein boomendes Feld. Bundesregierung und EU finanzieren millionenschwere Forschungsprojekte, große Unternehmen und Universitätsinstitute engagieren sich, Start-ups suchen ihre Chance mit klugen Ideen. 

Manche sehen in CCU eine schnelle Lösung für unser Klimaproblem, andere ein Ablenkungsmanöver, um so weitermachen zu können wie bisher. So viel ist klar: Das Kohlendioxid zu nutzen ist nur eine von mehreren notwendigen Strategien, um die Erderwärmung zu begrenzen. Aber welchen Beitrag kann der Ansatz dabei leisten? Wie ist der Stand der Technik? Und bei welchen Anwendungen liegen die größten Potenziale?

Polyurethane: Eine Vielseitige Kunststoffgruppe

Die Krux des CO₂: Es ist, drastisch gesagt, ein fauler Hund. »Als Endprodukt der Verbrennung ist es energiearm und reaktionsträge«, erklärt Michael Weinkraut, der bei dem Chemieunternehmen Covestro CO₂-Projekte koordiniert. »Man muss es erst einmal zu einer Reaktion motivieren. Dazu braucht es einen Katalysator.« Einen Stoff, der die Hemmschwelle senkt, damit das Kohlendioxid eine neue Liaison mit einem Reaktionspartner eingeht. 

In den 2000er-Jahren suchte Covestro, damals noch Teil der Bayer AG, nach einem Weg, CO₂ in Polyole einzubauen, jene Kettenmoleküle, aus denen in Verbindung mit einer zweiten Komponente – Diisocyanat – Polyurethane entstehen, eine äußerst vielseitige Kunststoffgruppe, aus der auch der bei Heim- und Handwerkern beliebte Bauschaum stammt. 

Den richtigen Katalysator zu finden erwies sich als große Herausforderung. Rund 200 verschiedene Varianten probierten Chemiker und Chemikerinnen in einer Kooperation von Bayer/Covestro und der RWTH Aachen aus, mehrere Jahre dauerte die Suche. Seit 2016 läuft eine Demonstrationsanlage in Dormagen. 

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In dem Polyurethan-Kunststoff, aus dem die Autositze aufgeschäumt sind, wurde fossiler Kohlenstoff durch Kohlendioxid ersetzt.
Foto: © Adient

Die CO₂-haltigen Polyurethane werden in verschiedenen Produkten genutzt

20 Gewichtsprozent des Polyols gehen auf CO₂ zurück. Die Zahl ist ein Kompromiss zwischen Klimaschutz und technischer Praktikabilität. »Theoretisch geht da noch einiges mehr«, sagt Weinkraut, »aber man muss immer schauen, dass sich aus dem Produkt auch Polyurethane mit den gewünschten Eigenschaften herstellen lassen.« 

Polyurethane, die aus dem CO₂-haltigen Polyol hervorgehen, sind ungeheuer vielseitig: Unternehmen schäumen damit Matratzen auf, fertigen daraus Dämmplatten für Hausfassaden, formen Armlehnen und Dachhimmel für Autos, verkleben Plastikpartikel zu stoßdämpfendem Unterbau für Kunstrasenbeläge. Und Forschende loten immer neue Anwendungen aus, wie etwa am Institut für Textiltechnik der RWTH Aachen, wo aus dem neuartigen Material Garne gesponnen werden. 

Bis zu 5000 Tonnen CO₂-Polyole verlassen das Covestro-Werk pro Jahr. Viel ist das nicht. Auf althergebrachte Weise produziert das Unternehmen immer noch knapp 1,3 Millionen Tonnen des Stoffes. Es ist ein Anfang, den Fachleute gern »Proof of Concept« nennen, ein Beleg, dass das Prinzip funktioniert. 

Einige Firmen vor allem in Asien verarbeiten bereits in anderen Dimensionen Kohlendioxid zu Polymeren, allen voran der japanische Konzern Asahi Kasei und dessen Lizenznehmer. Diese Unternehmen schlucken etwa das 180-Fache dessen an CO₂, was Covestro verbraucht, und stellen daraus jährlich 900 000 Tonnen Polykarbonate her, einen Kunststoff, der für CDs, Brillengläser und Fensterscheiben eingesetzt wird. 

Die Kunststoffindustrie steht vor einem gewaltigen Vorhaben

Welch weiten Weg die Kunststoffindustrie vor sich hat, zeigt eine Studie des Nova-Instituts in Hürth bei Köln, das sich zum Ziel gesetzt hat, den Umstieg der Chemie auf erneuerbare Kohlenstoffquellen zu fördern. Nach Recherchen des unabhängigen Instituts werden jährlich weltweit 400 Millionen Tonnen Polymere produziert, 90 Prozent davon aus fossilem Kohlenstoff, der Rest kommt aus dem Recycling und nachwachsenden Rohstoffen sowie – zu gerade 0,25 Prozent – aus dem eingefangenen Klimagas CO₂. 

In dem Szenario der Nova-Studie gelingt es, 2050 – dann wird die globale Jahresproduktion auf 1200 Millionen Tonnen angestiegen sein – Kunststoffe komplett ohne Erdöl und Erdgas herzustellen. Der Kohlenstoff wird dann vor allem aus der stofflichen Wiederverwertung, biogenen Quellen und zu einem Viertel aus Kohlendioxid stammen. Von 0,25 auf 25 Prozent binnen 28 Jahren, das ist ein gewaltiges Vorhaben. 

Der Chef des Nova-Instituts, Michael Carus, ist dennoch optimistisch, dass die Transformation gelingen kann. Mindestens 40 Unternehmen und Forschungsprojekte arbeiteten an Polymeren, in denen CO₂ als Rohstoff zum Einsatz komme. Zudem gebe es bereits eine Vielzahl an Technologien. »Wenn die politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen stimmten, könnte man in großem Maßstab loslegen«, sagt er.

Der vollständige Artikel befasst sich neben Kunststoffen mit der Nutzung von Kohlendioxid in Kraft- und Baustoffen. Er ist als Titelthema der Ausgabe 10/2022 von P.M. erschienen.